Bildübergabe im Stadtmuseum Münster, 6.4.2006

Diese Bildübergabe berührt, bewegt mich in vielfacher Hinsicht.

Einmal als Museumsmann, der sich natürlich über diese mäzenatische Tat freut. Zum
anderen als einen, der sowohl dem Maler wie dem, der dieses Bild bewahrte, über viele
Jahre verbunden war:

Hilm Böckmann – seit 1970 in steter Anteilnahme an seinem Schaffen;

Winfried Lerg – von seinem Studienbeginn in Münster bis zu seinem Tod 1995 – als
publizistischer Mitstreiter und Freund.

Winfried Lerg war knapp zwei Jahre jünger als ich. Wir begegneten uns beim Studium der
Publizistik in Münster schon im Sommer 1953. Es entstand eine Freund­schaft, die lebens-
lang hielt.

Als die Ära Walter Hagemann zu Ende ging – das war 1959 – blieben wir dem Fach treu
und gehörten zum harten Kern derer, die das existenzgefährdete Institut für Publizistik
retten wollten (zusammen mit Georg Hellack).

Gottseidank, es überlebte; und mit dem Niederländer Henk Prakke begann 1960 eine
neue Phase seiner Geschichte. Es gab nicht nur neue fachliche Impulse, auch ein anderer
Stil zeichnete sich ab.

Prakke war ein kulturaufgeschlossener Mann, ein Freund der Literatur und der Bildenden
Kunst; auch Anteil nehmend am kulturellen Leben Münsters. Kein Wunder, dass er schon
1961 das Gemälde eines münsterschen Künstlers erwarb, das sich thematisch mit seinem
Metier berührte, und seither einen künstlerischen Akzent in seinem Institut am Domplatz
setzte.

Es hing im hallenartigen Foyer, unübersehbar. Später bekam es einen Nachbarn: eine
Buschtrommel aus Afrika. Ein Duo, das die Spannweite der Kommunikation vom archa-
ischen Nachrichteninstrument bis zum modernen Medium Zeitung avisierte. Bis 1968 hing
das Bild dort. Dann geriet es im Zusammenhang mit der studentischen Protestbewegung,
die auch Münster erreichte, in Gefahr. Es erschien nun als Symbol der verhassten Springer-
Presse und damit als Provokation. Wir mussten es sicher­stellen. Der Eigentümer Prakke
hinterließ es seinem Nachfolger Lerg als Geschenk. 25 Jahre hing es in dessen Arbeits-
zimmer – langsam zur historischen Ikone werdend.

Mit ihm verbindet sich ein Stück münsterscher Geschichte im Übergang von den 50er zu
den 60er Jahren. Seine vielfältige Relevanz ist eindrucksvoll. Aber zunächst ist es doch ein-
mal in seiner künstlerischen Eigenart zu sehen und damit auch auf den Künstler hin zu be-
fragen.

Hilm Böckmann, ein münsterscher Maler, Jahrgang 1932 (wie Lerg), zeitlebens mit dieser
Stadt verbunden. In der Kontinuität des Hierbleibens und beharrlichen Schaf­fens mittler-
weile einer der „Altmeister“ der Szene. Aber auch über Münster hinaus beachtet. Er war
immer ein figürlich-gegenständlicher Maler. Aber abgesehen davon immer auch einer mit
einem hohen künstlerischen Qualitätsanspruch – fern von bloßem Formalismus.

In der Zeit, in der der „Zeitungsverkäufer“ entstand, war er in besonderer Weise „lebens-
nah“. Auch die anderen vier Bilder, die hier anlässlich der Übergabe zu sehen sind, zeigen
es: der Schlachter, der Nachtwächter, die Spielzeugverkäuferin und die Schießbude auf
dem Send. Alle 1960 bis 1965 geschaffen. Die Anregung zum Stra­ßenverkäufer der Bild-
Zeitung kam aus der Alltagswirklichkeit Münsters, von der Salzstraße. Aber was ist daraus
geworden? Eine künstlerische Reduktion voller Ausdruckskraft!

Mit zwei bemerkenswerten Zeichnungen in Kohle und Rötel – jetzt auch hier zu sehen –
begann 1960 die erste Erfassung des Motivs.

Die Kohlezeichnung zeigt die Figur schon in ihrer Grundhaltung und ihrem Gestus. Kittel-
artig der Mantel, ausgebeult die Hose. Der Kopf mit dem geöffneten Mund aber stärker
der eines „Ausrufers“. Deutlich die BILD-Schrift auf Zeitungsblatt und Mütze.

Die Rötelzeichnung ist rhythmisch fließender in einem linearen Duktus angelegt. Doch die
herabhängende Hand erscheint hier schon größer.

Dann das Gemälde: ein ganz neuer, intensiverer Ansatz. Ein schlanker, ja dürrer, schmal-
schultriger Mann. Die herabhängende Hand von eigentümlicher Schwere. Die Füße stärker
als in den Zeichnungen auseinandergestellt, damit Standfestigkeit gewinnend.

Im Drei-Zonen-Hintergrund von graubraun, dunkelrot und graugrün ist das große, wie
eine Wand wirkende Rot bestimmend. Die Kleidung in bläulicher Fleckung modelliert. Das
erhobene Zeitungsblatt wird in seiner Helligkeit mit dem Rotfleck des Titels zu einem Mit-
telpunkt des Bildes. Die Zeitungstasche betont den Boten.

Zusammen mit der kargen Körperlichkeit und dem derben Kopf hat die ganze Gestalt einen
unverkennbar proletarischen Ausdruck – einerseits erschreckend, andererseits bemit-
leidenswert.

Der rote Hintergrund schneidet durch die Mundzone des Kopfes und betont dadurch den
Ruf: er wird zum fordernden Schrei!

Das Bild hat ein der Gestalt adäquates schmales Hochformat. Dies trägt zweifellos zu
seiner Suggestivität bei. Es weist eine relativ kräftige Malschicht auf. Der Hintergrund ist
delikat gespachtelt, die Figur mit breiten Pinselstrichen sicher herausgearbeitet.

Das Licht kommt von links. Es ist ein eigentümlich bedecktes Zwischenlicht, nicht ohne
einen gewissen magischen Charakter – wie immer bei Böckmann.

Das Gemälde ist nicht nur ein „Berufsbild“, es ist mehr noch ein Zeit- und Menschen­bild:
eines, das nicht zuletzt die Dunkelheiten und existenziellen Unsicherheiten jener Jahre
beruft, in denen es uns eigentlich schon besser ging. Und in denen es immer noch den „ar-
men Job“ gab, der auf der Straße Zeitungen feilbieten musste und damit doch auf keinen
grünen Zweig kam – allem Medienfortschritt zum Trotz.

Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Vergleichsbilder werfen, die anlässlich der Schen-
kung mit vorgestellt werden. Sie können uns weiter mit dem Künstler vertraut machen.

Der „ Nachtwächter“ von 1963 – dem „Zeitungsverkäufer“ verwandt: wieder frontal eine
Ganzfigur, wieder ein drei-zoniger Hintergrund. Ebenso die Gliedmaßen über­betont.
Gleicherweise etwas Bedrohliches, Schreckendes. Blickfänge: Lampe und Hund. Nicht zu-
letzt ist das Format ähnlich.

Der „ Schlachter“ von 1962: Er steht nicht im Mittelpunkt, er ist Randfigur. Die rohe Ma-
terialität der Fleischteile drängt ihn zur Seite, dennoch ist er unverkennbar der Täter. Das
Dumpfe, Bedrückende der Szene trifft; das Abgründige aller Wirklichkeit scheint auf.

Zwei Frauenbilder noch, verspielter erscheinend:

Die „ Spielzeugverkäuferin“ von 1960. Eine schlanke Figur vor einem magisch blau-grünen
Hintergrund. Eine leicht und freundlich erscheinende Szene, und doch auch wieder eine
melancholische Verschattung, eine Atmosphäre wie in den „Zimtläden“ des jüdischen Dich-
ters und Graphikers Bruno Schulz.

Die „ Schießbude auf dem Send“ von 1965 – ein weibliches Brustbild, umgeben von einer
maskenhaften Maschinerie, fragend, verlockend, skeptisch. Da ist der Künstler auf dem
Wege zu jenem „magischen Realismus“, der dann für sein weiteres Werk bestimmend wer-
den sollte.

Fünf wunderbare Bilder, in die man sich lange versenken kann. Facetten einer Zeit, die vol-
ler Ungewissheiten und Bedrohungen war – auch der Spiegel einer Provinz in der Mitte
des 20. Jahrhunderts, deren Abgründe nur wenige wahrnahmen.

Dr. Siegfried Kessemeier

 
       
         
         
         
         
         
         
         
         
         
         
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